Montag, 1. Oktober 2007
32. - 39. Tag (Montag, 24.09. - Sonntag, 30.09.2007)
Montag

Aufstehen musste ich zu einer höchst unchristlichen (wahrscheinlich auch unmuslimischen, wenn nicht gerade Ramadan ist) Zeit, denn es war an mir, mich zur universitären "Welcome Ceremony" zu begeben. Positiv daran: Kekse, Tee, Informationsvermittlung und Kennenlernen von Erasmuskommilitonen (zu denen gleich mehr). Negativ: Panische Nerv-Studenten, peinliche Spielchen zum Kennenlernen ("Sagt euren Namen und macht eine typische Handbewegung"...ich gab ihnen die Pommesgabel).

Ich fühlte mich zurückversetzt zum Beginn des Sprachkurses. Es gibt hier jedoch nicht ganz so viele Erasmusmenschen hier wie dort (zum Glück!) und auch ethnisch sind sie nicht ganz so durchmischt. Es gibt 3 große Gruppen: Deutsche, Franzosen und Polen. Dazu eine Belgierin und - exotisch! - eine Malteserin.

Nachmittags jedenfalls hatten wir Sprachkurs. Unser Lehrer scheint der nächsten Grundschule entsprungen. Den türkischen Dialog mussten wir im Chor nachsprechen. Daraufhin beschloss ich, nicht mehr zu diesem Sprachkurs zu gehen. Meine Hoffnung besteht darin, dass "Turkish advanced" von einem anderen Pädagogen unterrichtet wird…

Dienstag

Ich beging den Fehler und ging zu einer Veranstaltung mit dem gut klingenden Titel "Turkish Culture" anstatt zu meinem Contemporary British Novel-Seminar. Die von einer Dozentin des Department of Turkish Folklore vorbereitete Präsentation fiel mangels Beamer leider aus. Sie fand es aber gar nicht schlimm, sondern im Gegenteil GANZ TOLL, denn so konnte sie uns nützliche Weisheiten über die Eigenheiten ihrer Kultur mit auf den Weg geben, die da wären:

1. Türken sind freundlich und hilfsbereit.
2. In einem türkischen Haus muss man seine Schuhe ausziehen.
3. Türken benutzen zur Orientierung keine Stadtpläne.

Anschließend begann sie dann zu singen. Es war furchtbar! Es war pathetisch! Fremdschämen heißt das, glaube ich.

Mittwoch

Ich beging heute nicht denselben Fehler und ging ganz einfach zu meinen Seminaren. Zuerst "Introduction to Cultural Studies", anschließend "British Drama III". Das war beides sehr gut und meine türkischen Kommilitonen (man beachte das generische Maskulinum!) überschlagen sich geradezu vor Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft (s.o.).
Im Anschluss begaben wir (die Erasmusmenschen) uns per Dolmuş (meine erste Fahrt!) in die Stadt, wo unsere EU-Office-Freiwillige Merve für uns ein Iftar-Menü organisiert hatte. Dieses besteht aus:
•Suppe (mit Brot)
•Salat (mit Brot)
•So ne Art Frühstücksteller (mit Brot)
•Hauptgericht (In meinem Fall: Döner. Mit Joghurt. Und Brot.) Das sah ungefähr so aus:

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•Nachtisch (In meinem Fall: Was Faseriges, triefend Süßes, dessen Namen ich nicht memoriere. War aber geil!)

Das alles kann man vielleicht essen, wenn man den ganzen Tag gefastet hat. Ich hatte das…nicht. Trotzdem gab ich mein Bestes, vor allem bei dem Döner, aber es hatte ja keinen Sinn… Bei unserer Wette, wer am meisten Gewicht zulegen wird, habe ich jedenfalls gute Chancen auf den Gewinn.
Das anschließende Biertrinken habe ich boykottiert, weil ich für ein großes Bier keine 8YTL (5 Euro!!!) bezahle. Ich bin doch nicht auf dem Oktoberfest hier;-) Stattdessen habe ich mir von Kris (polnisch; ich stecke Menschen doch so gern in ethnische Schubladen) Bier aufdrängen lassen und zum Dank das Thema „Sodomie“ eröffnet. Was gibt es Erbaulicheres?

Donnerstag

„British Prose and Poetry“ war schnell vorbei und als ich anschließend versuchte, die „Norton Anthology of British Literature“ in der nicht ganz so gut sortierten Bibliothek zu finden, holte ich mir Hilfe bei einer ehemaligen Erasmusstudentin (in Finnland), die in meinem Department studiert und die zufällig da rumstand. Nach erfolgreicher Suche und Kopiererei gingen wir einen Tee trinken und ich fand großartigerweise heraus, dass sie einen zumindest ähnlichen Musikgeschmack wie ich hat. So konnte sie mir von allen Festivals erzählen und von verschiedenen türkischen Metalbands. Allerdings hab ich mir nur „Karakedi“ („schwarze Katze“) gemerkt. Zusammen mit Kenan, der Research Assistant im Department ist, fuhren wir anschließend ins Armada Einkaufszentrum, nein! Shopping Mall. Dort gibt es das gute Mado-Eis zu kaufen, was wohl besonders türkisch, aber auf jeden Fall besonders gut ist. Besonders wenn man seine Portion Schokoladen- und Pistazieneis noch mit Schokoladensoße, ähem, beträufelt (= überschüttet). Anschließend durften wir Kenan noch beim Shoppen beobachten, was besonders spaßig war.

Freitag

Ein weiteres Highlight unserer Orientierungswoche: Alle Sehenswürdigkeiten Ankaras an einem Vor- und einem Nachmittag!
9-12 Uhr: Atatürks Mausoleum (auf Türkisch: Anıtkabir). Hauptsächlich groß. Böse Zungen würden den Baustil wohl als nationalsozialistisch oder schlicht größenwahnsinnig bezeichnen. Aber macht euch selbst ein Bild:

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Der Mann im Anzug war übrigens unser Guide - und nicht etwa der Security Guard.

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Ob sie das jeden Tag machen? Nun, ich nehme es an..

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Ich habe auf das stupide Foto von mir und dem Wachmann, der nicht lächeln darf, verzichtet...

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Hier weine ich um Atatürk. Ich habe gehört, das sei so üblich...

Unser Führer (*räusper*) war jedenfalls von der schlichten Großartigkeit seines Arbeitsplatzes überzeugt und brüllte uns die Informationen mit stolzgeschwellter Brust entgegen. Den Sarkophag selber kann man übrigens gar nicht sehen. Jedenfalls nicht live. Aber man sieht eine Live-Video-Übertragung aus der Gruft. Um Atatürk (fachmännisch einbalsamiert) herum stehen 42 goldene Gefäße mit Erde aus 42 Regionen der Türkei. Außerdem ist 42 Atatürks Schuhgröße. Im dazugehörigen Independence War Museum bekamen wir einen kleinen Eindruck von türkischem Patriotismus: „Atatürk befahl seinen Männern zu sterben und sie taten es für ihn und für die Freiheit.“ „Die Flagge eines Landes steht für seine Freiheit. Atatürk fand auf dem Schlachtfeld einen toten Soldaten, der die türkische Flagge so fest in seiner Hand umklammert hielt, dass sie selbst nach seinem Tod nicht den Boden berührte. Das war das erste und einzige Mal, das Atatürk weinte.“ Dazu wunderbar realistisch nachgebaute Schlachtfelder (von Gallipoli und sonstwo) und weitere Kriegsanekdoten in diesem Stil. Weiter ging es ins Atatürk-Museum, wo wir nicht nur Atatürks goldene Streichholzschachtel („It’s priceless.“), sein Besteck, sein Notizbuch, seine Uhr, seine Hosen („He was very modern“), seine Rudermaschine und seinen ausgestopften Hund („Fox“) bewundern durften, sondern auch seine Bibliothek, die aus zweitausenddreihundertirgendwas Büchern besteht, die er alle persönlich gelesen und studiert hat (aufgeschlagene Bücher mit Unterstreichungen belegen das). Unter diesen viertausendsechshundertirgendwas Büchern befinden sich ein 20-bändiges Juralexikon und eine mindestens tausendseitige Einführung in die Geschichte Neuseelands. Nun ja.
Derart mit zügelloser und vollkommen kritikfreier Verehrung für den Vater der Türken und auch mit einer gewissen Kriegsbegeisterung aufgeladen erwies sich der Besuch des Museums der Anatolischen Zivilisationen als eher dröge. Ich hab also ein Foto von Hakenkreuzen gemacht:

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Bevor hier irgendwer irgendwas kommentiert: Ich weiß sehr wohl, dass eine Swastika oder indisches Sonnenrad wenig mit dem NS-Symbol zu tun hat.
Jedenfalls war es kein Wunder, dass wir Hanna dort vergessen haben, die als einzige ernsthaft interessiert war. Wir anderen weniger Interessierten jedenfalls zogen es vor, uns in einem nahegelegenen Innenhof mit Gözleme den Bauch vollzuschlagen, um die nötige Energie für den Aufstieg zur Zitadelle aufzunehmen. Doch war jener Aufstieg keineswegs umsonst, denn wir wurden belohnt mit einer wahnwitzig grandiosen Aussicht über eine verdammt noch mal riesengroße Stadt:

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Wahrscheinlich haben sie in diesen Häusern kein wasser - aber eine Satellitenschüssel!

Auch lustig war, dass man dort oben überall ganz leicht runterfallen könnte. Was einen weiteren eklatanten Unterschied zwischen Deutschland und der Türkei darstellt. So weit jedenfalls ging es überall runter:

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Nach einer kurzen Phase der Regeneration hatten Indie und ich einen sehr amüsanten kleinen Abend. Und der ging so:

Schon die Anreise zur Party bereitete uns größte Freuden. Wir wechselten uns mit den Entscheidungen die Route betreffend ab (Wo steigen wir aus dem Bus aus? In welche Richtung gehen wir? Sollten wir nicht langsam wirklich mal jemanden fragen?) und brauchten eineinhalb spaßige Stunden, bis wir die große „Hacettepe University Hit Open Party“ gefunden hatten, die, wie sich herausstellte, nicht ganz so groß war. Außerdem war keiner der Deutschen gekommen, die waren nämlich alle zu müde. Versager! Dafür waren die Franzosen und Polen gut in Stimmung und niemandem schien es etwas auszumachen, dass a) sonst niemand tanzte und b) die Musik wirklich ganz großer Mist war. Es handelte sich um Techno der übelsten Sorte (zumindest soweit ich das beurteilen kann). Als ich mir etwas wünschen wollte, wurde mir von den hochgradig arroganten DJ-Assistenten (der DJ selbst war wohl zu sehr in seine Kunst vertieft) mitgeteilt, dass das ja wohl nicht ginge, man hätte eine feste DJ-Setlist. Aaaah ha. Wozu, fragte ich mich, braucht eine Party dann einen DJ? Die Musik (eher: das Gedröhn) könnte ebensogut vom Band kommen. Da ich somit nicht auf konstruktivem Wege die Musik (besser: das Geräusch) verbessern konnte, hielt ich mich an Plan B, der besagte, mir die Musik (oder: den Krach) schön zu saufen. Das klappte auch in Ansätzen ganz gut und ich war so nett zu dem Barkeeper, dass er mir das vierte Efes geschenkt hat (war sein Name vielleicht Ramazan?!). Könnte allerdings neben meiner Nettigkeit auch an der hohen Frequenz meiner Bierbestellungen gelegen haben…Gegen 2 Uhr wollten die Franzosen dann gehen, oder sie mussten, keine Ahnung, jedenfalls sind alle, die auf dem Beytepe Campus wohnen, gegangen. Ätsch! Die Polen, Indie und ich verließen ebenfalls den Ort der grausamen Musik, um uns zu einer Hausparty zu begeben. Auf dem Weg zum Auto der Türken, die uns dorthin eingeladen hatten, traf ich doch tatsächlich in dieser großen Stadt Kenan und Esra (vielleicht heißt sie so), mit denen ich Donnerstag in der Shopping Mall war. Wir jedenfalls sind mit 2 Autos zu dieser Wohnung, was ein Abenteuer war, weil wir in eine Polizeikontrolle gerieten und unser Fahrer leider 2 Wodka getrunken hatte. Never mind, sie tauschten einfach Fahrer und alles ward gut. In der Wohnung angekommen, stellte sich heraus, dass die Party darin bestand, möglichst leise zu sein, weil der Vermieter nebenan schlief. Die Polen haben sich nicht wirklich dran gehalten und hatten dann auch noch den tollen Plan, eine Flasche Wodka zu besorgen. Leider war ich auch bereits so betrunken, dass ich mich nicht wirklich wehrte, als mir ebenjener Wodka angeboten wurde. Doch auch die Polen verabschiedeten sich gegen 3 Uhr und ließen uns mit zwei Türken alleine (Namen sind Schall und Rauch!), die mit uns pokern wollten und uns zu diesem Zweck fragten, ob wir etwas dagegen hätten, wenn sie ihre Hosen ausziehen würden. Kein Scherz! So spielten wir also mit zwei Türken in ihren Boxershorts Poker, allerdings ohne Geld oder Chips, was das Ganze irgendwie etwas witzlos machte. Gegen 5 Uhr fiel uns auf, dass es doch eigentlich schon recht spät sei und so verließen wir die trotz Übernachtungsangebot den Ort des Geschehens, um uns mittels unserer Gehwerkzeuge nach Hause zu manövrieren, was uns abgesehen von der schieren Länge des Weges und der damit verbundenen Anstrengung keine besonderen Probleme bereitete. Es war, wie gesagt, hell, als wir in unserem Stadtteil ankamen und uns noch einige Sesamringe fürs Frühstück mitnahmen. Ein schöner Abend!

Samstag

Grauenhafter Schmerz. Peinigender Schmerz. Kopfschmerz. Um 12 Uhr erwachte ich mit dem Gefühl, mein Schädel wolle explodieren. Dazu war mir übel. Etwa 2 Stunden warf ich mich hin und her und versuchte mein Hirn mit Jan Tenner-Folgen zu beruhigen, aber es hatte keinen Sinn. Schließlich entschied ich mich für die orale Absonderung meines Mageninhalts und des darin offensichtlich noch immer befindlichen Nervengiftes. Eine gute Entscheidung! Ich schlief friedlich weiter bis halb fünf. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, das Haus zu putzen, zu frühstücken, zu Abend zu essen und nichts zu tun.. Tayfun hatte leider die schlechte Idee, sich "Hostel 2" anzusehen. Während ich vor meinem Laptop saß und diesen Beitrag tippte, hörte ich aus den Boxen seines PCs Schmerzensschreie und Hilferufe von Menschen, die gerade gegessen werden o.ä. ARGL!

Sonntag

Nach einem gemütlichen Frühstück (das heute den Namen FRÜHstück tatsächlich verdiente) machten sich Indie und ich auf nach Ulus, wo wir uns je einen Schrank besorgten. Wenn man findet, dass eine Konstruktion aus Spanplatten, Eisenstangen und Stoffbezug den Namen „Schrank“ verdient. Ich finde schon… Nachdem wir unsere Errungenschaften recht mühselig nach Hause befördert hatten, begann das Spannendste – der Aufbau! Leider hatten wir es mit Produkten einer Prä-Ikea-Entwicklungsstufe zu tun, was uns zu einiger Improvisation zwang, doch am Ende triumphierten wir über die mangelhafte Konstruktion. Ehrlicherweise muss ich an dieser Stelle jedoch darauf hinweisen, dass es mir ohne Tayfuns Hilfe wohl nicht geglückt wäre. Was soll ich sagen? Mir fehlt wohl einfach im Hirn ein Schaltkreis, mit dem andere Menschen solche Probleme lösen…
Den Abend verbrachten wir mit der Zubereitung und Aufnahme von Nahrung und dem Konsum eines wirklich extrem schlechten Films namens „Ich, du und der andere“. Aber es kann ja nicht immer ein postmoderner britischer Roman sein, hm?
Und hiermit beende ich meinen Rapport, denn ich bin in der Gegenwart angekommen. Morgen hab ich frei, werde aber mit Indie zu ihrer Uni fahren, weil deren Bibliothek besser ist als unsere, und nach einigem Lesewerk Ausschau halten.
Auf bald, ihr alle!

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