Montag, 26. November 2007
76.-83. Tag (Montag, 5. - Sonntag, 11. November)
Weil ich in dieser Woche ziemlich krank war und krank sein langweilig ist (zum Erleben interessanter Dinge war ich nicht fähig), habe ich beschlossen, euch ein *Special* (ihr müsst euch das mangels meiner HTML-Kenntnisse in blinkender Leuchtschrift vorstellen) zu kredenzen! Darin werde ich euch einige der vielen kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und der Türkei aufzeigen. Das wird ein Spaß!

1. Personifikation von Gebäuden

Fangen wir mit was Harmlosem an: Wohnhäuser haben Namen! Ich zum Beispiel wohne im Murat Apartman, nebenan ist das Barış Apartman (Friedenshaus) und um die Ecke das Şapkacı Apartman (Hutmacherhaus).

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Bei meiner Rückkehr werde ich eine Petition einbringen, diese schöne Gepflogenheit auch in Deutschland einzuführen. Für den grauen Betonklotz in der Dortmunder Ernst-Mehlich-Straße, in dem sich meine WG befindet, werde ich den Namen "Haus der Intoleranz" beantragen.

2. Servicekultur

Das Konzept der Selbstbedienung ist in der Türkei in vielen Bereichen weitgehend unbekannt. Im Supermarkt wiege ich mein Obst und Gemüse nicht selber und im Copy Shop kopieren die Angestellten für mich. Manchmal packt mir jemand meine Einkaufstüte und jeder Supermarkt hat Kleinbusse, die man nutzen kann, um sich nach Hause fahren zu lassen. Im Langstreckenbus werden Getränke im Halbstundentakt verteilt und niemand würde auf die Idee kommen, dafür Geld zu verlangen (auch nicht bei der allerbilligsten Busgesellschaft). Die ganze Sache mit der Servicekultur kann aber auch ganz schön nervige Züge annehmen: Den Satz "Ich will mich nur umsehen" verstehen die meisten Verkäufer nicht, weder in Schreibwarenläden noch in Klamottengeschäften. Meist hängt sich dort jemand an deine Fersen und springt zur Stelle, sollte sich deine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Artikel konzentrieren.

3. Angst vor Terrorismus

Manchmal frage ich mich, ob Metalldetektoren wirklich keine schädliche Wirkung auf meinen Organismus haben. Jedenfalls passiert es mir im Alltag durchschnittlich 2 mal die Woche, dass ich durch einen gehen muss, denn es gibt sie einfach überall: Vor allen Verwaltungsgebäuden, dem Busbahnhof und größeren Shopping Centern. Eng damit zusammen hängt die Tendenz, alles, was nur entfernt wichtig sein könnte, von Soldaten mit Maschinengewehren bewachen zu lassen. Ich meine - HALLO? Ich glaube nicht, dass ich in meinem bisherigen Leben jemals ein Maschinengewehr gesehen habe, geschweige denn eine Hundertschaft von Polizisten mit dem Finger am Abzug. Weniger schwer bewaffnet bewacht werden aber auch andere Institutionen, wie beispielsweise Universitäten. Um auf den Campus zu kommen, braucht man entweder den passenden Studentenausweis oder man muss seinen Ausweis an der Pforte abgeben, was ganz schön zeitraubend und unnötig ist. Was soll ich denn schon auf dem Campus machen? Und inwiefern wird mich die Tatsache, dass ich meinen Perso abgeben musste, daran hindern? Es kostet mich jeden Morgen 3 Minuten meiner kostbaren Zeit, bis der kleine Hilfspolizist durch den vollgepackten Bus gegangen ist und alle Ausweise kontrolliert hat.

4. Öffentlicher Personennahverkehr

Es lebe der deutsche ÖPNV, er lebe drei mal hoch! Denn auch wenn wir uns über Verspätungen aufregen, sollten wir froh sein, dass es überhaupt einen Fahrplan GIBT, von dem es Abweichungen geben kann! Wobei ich jetzt eigentlich lüge, denn es gibt bestimmt Fahrpläne. Bloß, dass diese offenbar strenger Geheimhaltung unterliegen. An den Haltestellen hängen sie jedenfalls (bis auf Ausnahmen, wie z.B. den Vorstadtzug) nicht und im Internet stehen sie auch nicht. In der U-Bahn erfährt man zumindest noch, wie die weiteren Haltestellen heißen, aber beispielsweise auch nicht, wann die letzte Bahn fährt (immer eine interessante Info). GANZ kompliziert wird es dann beim Busfahren. Denn Busse fahren in großer Anzahl von überall nach überall hin. Das Problem ist, herauszufinden, welchen man nun selbst gerade braucht. Das ist insofern schwierig, als es am Haltepunkt höchstens mal ein großes "D" für "Durak" ("Haltestelle") gibt oder, wenn man Glück hat, die Angabe der Busnummern und des Ziels. Nirgendwo ist jedoch jemals zu erfahren, welche Route dieser Bus nimmt und ob zufällig die eigene Destination darunter ist. Jedenfalls nicht bei den Stadtbussen. Denn neben denen gibt es zu allem Überfluss auch noch Busse von privaten Betreibern und natürlich Dolmuşe und bei denen stehen die Zwischenstopps manchmal im Fenster. Jedenfalls frage ich mich, wie man durch dieses System jemals durchblicken kann. Offensichtlich baut es darauf auf, dass irgendwo Menschen in der Nähe sind, die Ahnung haben. Wie überhaupt ein viel größerer Teil des türkischen Alltags auf Kommunikation basiert. Schlecht für denjenigen, der nur wenig Türkisch kann!

5. Verkehrsregeln...

...scheinen nicht immer und für jeden zu gelten. Jedenfalls ist es völlig normal, dass Fahrzeuge auch mal bei rot über eine Kreuzung fahren, wenn sie sich irgendwie in den Verkehr fädeln können. Als Fußgänger hat man so gut wie keine Rechte, da hilft einem auch nicht, wenn man grün hat. Wie oft ich dem Tod durch Verkehrsunfall schon nahe war, vermag ich nicht zu sagen. Da ist es nur logisch, dass sich in diese motorisierte und nach Abgas stinkende Hölle kein Türke mit einem Fahrrad begeben würde. Das Fahrrad hat in der Türkei als Fortbewegungsmittel sowieso so gut wie keinen Wert, es sei denn, man befindet sich gerade auf einer der Istanbuler Prinzeninseln, auf denen Autos verboten sind. In Ankara hab ich bisher zwei Jungs auf Rädern fahren sehen. Selbstverständlich auf dem Bürgersteig.
Ein lustiges Detail noch: Ampeln sind hier immer mit einem Zähler ausgestattet, der anzeigt, wie lange es noch rot oder grün ist. Das kann entweder ganz nett oder furchtbar frustierend sein, beispielsweise wenn die Fußgänger noch 159 Sekunden lang rot haben:-(

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6. Bürgersteige

Warum das so ist, konnte mir noch kein Türke verraten, aber türkische Bürgersteige sind fast doppelt so hoch wie deutsche, was in ziemliche Kletterei ausarten kann. Darüber hinaus sind diese kniehohen (ich übertreibe) Steinbarrieren meist in einem beklagenswerten Zustand, so dass das Laufen darauf schnell in einer lustigen Berg- und Talfahrt endet.

7. Geschlechterverhältnis

Wenn es sie gibt, sind sie mir noch nicht aufgefallen: Busfahrerinnen, Ticketverkäuferinnen, Kellnerinnen, Besitzerinnen von kleinen Geschäften, Busstewardessen, Polizistinnen. Der einzige Ort, an dem man weibliche Angestellte zu Gesicht bekommt (und dort dann fast ausschließlich) ist hinter einer Supermarktkasse. Obwohl es in der U-Bahn wohl mittlerweile zur Normalität geworden ist, dass Männlein und Weiblein nebeneinander sitzen, ist das in Überlandbussen noch eine ganz andere Baustelle. Als sich auf meiner Rückreise von Antalya ein älterer Herr von mindestens 70 Jahren neben mich gesetzt und der Steward das gesehen hatte, war ihm das offenbar furchtbar unangenehm, er bat den Opa aufzustehen und sich woanders hinzusetzen, unter begleitenden "Allah-Allah!"-Rufen.
Etwas ganz anderes gilt übrigens für die Uni: Hier gibt es genauso viele Frauen, die Englischdozentinnen sind, wie in einer entsprechenden deutschen Fakultät. Und - genau wie in Deutschland - ist es öfter ein Mann als eine Frau, der das English Department leitet...

8. Körperkontakt

Türken sind Anfasser. Nicht nur muss man sich zur Begrüßung Bussies geben (eins links, eins rechts), sondern auch während des Gesprächs ist es völlig normal, wenn der soeben kennengelernte Gesprächspartner ständig in die Intimsphäre eindringt (welche er nie als solche definieren würde), um wichtige (und unwichtige) Details des eben Gesagten zu unterstreichen. Wer mich kennt, weiß, dass diese Attitüde nicht unbedingt eine ist, die ich besonders begrüße. Ehrlich gesagt find ich es ganz schön anstrengend. Den Erasmusmenschen hab ich schon verboten, mich mit Küsschen zu begrüßen. Sie halten sich dran.

9. Umweltbewusstsein yok (= nicht vorhanden)

Obwohl das auch wieder gelogen ist, denn immerhin wird Papier getrennt gesammelt. Dafür geht man extrem verschwenderisch mit Plastiktüten um. Der Gedanke, für solche Geld zu bezahlen, würde hier wahrscheinlich Erstaunen auslösen (und auch ich werde mich wieder dran gewöhnen müssen). Außerdem gibt es keine Mülltonnen, stattdessen wird der Müll in besagten reichlich vorhandenen Plastiktüten gesammelt und dann an zum Müllabladen designierten Plätzen (so alle 10 Meter) abgestellt. Das nehmen die ebenfalls reichlich vorhandenen Straßenkatzen und -hunde zum Anlass, sich darin ihr essen zu suchen, was dazu führt, dass man sie beim Vorbeilaufen immer wieder aufscheucht. Daraus ergeben sich dann lustige Schockeffekte in Form raschelnder Tüten und sich unter Autos verkriechender Schatten.
Autoabgase scheinen keinen besonderen Beschränkungen zu unterliegen und besonders die Dolmuşe sind ganz offenbar furchtbare Dreckschleudern. So kommt es, dass man besonders zur Rush Hour schon mal Menschen mit Atemschutzmasken sieht.

10. Entwicklungsland vs. Industrieland

Kann man wirklich von einem zivilisierten Industrieland sprechen, wenn es darin möglich ist, dass ein ganzer Stadtteil (wohlgemerkt ein Stadtteil der Hauptstadt) ohne Vorwarnung 2 Tage lang kein fließendes Wasser hat? Und öfter mal der Strom aus keinem erfindlichen Grund ausfällt? Genau das passiert hier nämlich schon mal... Da kann man dann nichts anderes machen als sich Wasservorräte für die Klospülung anlegen, auf gewaschene Hände und Geschirrspülen (und die ganzen anderen tollen Sachen, die man mit fließendem Wasser so anstellen kann) zu verzichten und eine Kerze anzünden.


Wahrscheinlich gibt es noch 1001 weitere Unterschiede und garantiert auch Gemeinsamkeiten. Aber ich bin jetzt seit mehr als 3 Monaten hier und viele Sachen fallen mir einfach nicht mehr auf. Aber nach meinem Deutschlandurlaub werde ich sicherlich in der Lage sein, einen zweiten Teil zu schreiben.

To be continued...

Und damit dieser Beitrag nicht zu so textlastig gerät, hier noch ein paar Bilder, die ich vom Atakule (Aussichtsturm) aus gemacht habe:

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